Wie können wir Gottes Willen gemeinsam suchen und finden? Theologische Grundierung des Bischofs Dr. Bertram Meier beim Diözesanrat am 3.3.23

Synodale Kirche als Suchgemeinschaft

Wie die Heilige Schrift erahnen lässt, was Gottes Wille für die Menschen ist, so zeigt sich in den Suchbewegungen des Volkes Gottes auch, wie sich die Suche nach dem Willen Gottes praktisch vollzieht. Von diesem Mühen gläubiger Suchgemeinschaften ergeben sich Aussagen für unser eigenes Fragen nach dem Willen Gottes. Das ist gelebte synodale Kirche.

Gottes Lebensworte als fundamentale Entscheidungshilfe

Es ist gar nicht so selten, dass geistliche Gemeinschaften um Vorträge anfragen, bei denen ich Hilfreiches zur „Unterscheidung der Geister“ sagen soll. Oft steckt dahinter die Hoffnung, durch konkrete Lernschritte Hilfen in notvollen Entscheidungssituationen zu erhalten. Doch es gibt meist weder Patentrezepte noch glatte Lösungen. Manchmal „enttäusche“ ich meine Zuhörer, wenn ich auf die einfachen Gebote der Heiligen Schrift als Entscheidungshilfe verweise. Etwa auf das Gebot: „Du sollst nicht töten!“

Mir stehen dabei Situationen vor Augen, bei denen man nur sagen kann: „Wenn an dieser chronischen Überlastung noch Jahre festgehalten wird, dann wird die gesundheitliche und nervliche Situation der Person noch drängender und beängstigender als sie schon ist!“

Es braucht keinen hochdifferenzierten „spirituellen Spürsinns“, um eine Entscheidung für das Leben im Sinn des menschenfreundlichen Gottes zu treffen. Hier genügt der einfache, gesunde, christliche Menschenverstand. Die zugleich kritische und hilfreiche Frage lautet also: „Verstoßen wir durch unsere Entscheidung nicht gegen grundlegende Werte des Menschseins und gegen das Evangelium?

Von den „Kindern dieser Welt“ lernen

An einigen Stellen des Evangeliums wird eine gewisse Sympathie Jesu zu den „Kindern dieser Welt“ deutlich. Im Blick auf sie „stichelt“ Jesus seine Jünger. Im Gleichnis vom ungerechten Verwalter stellt er das entschlossene, situationsbezogene Verhalten eines Mannes vor Augen, dessen materielle Lebensbasis bedroht ist. Im Gleichnis vom Turmbau und vom Kriegszug macht Jesus deutlich, wie überlegt und geplant die „Menschen dieser Welt“ bei ihren Planungen und Entscheidungen vorgehen.

Vielleicht sind „profane“ Entscheidungsprozesse so gut durchdacht, weil sie oft direkt, schnell und unübersehbar belohnt oder bestraft werden mit wirtschaftlichem Erfolg bzw. mit Insolvenz und Bankrott.

Manchmal möchte man im kirchlichen Bereich sagen: „Lernt von den Kindern dieser Welt! Lernt von deren Sachverstand, von deren Methoden, von deren Verantwortlichkeit, von deren Einsatz, von deren Wirklichkeits- und Marktanalysen usw.!“ Die selbstkritische Frage lautet: Mühen wir uns genügend, Entscheidungsträgern die entsprechenden Ausbildungshilfen zu geben?

Entscheiden, worauf es ankommt!

Im 1. Kapitel seines Briefes an die Philipper schreibt Paulus: „Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher an Einsicht und Verständnis wird, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt.“ (Phil 1,9)

Im Anschluss an diesen Gebetswunsch kann man sagen: Es kommt nicht darauf an, dass man einfach irgendetwas (weg)entscheidet, sondern dass das entschieden wird, worauf es ankommt. Es gilt immer mit der Frage zu leben, ob man nur einfach etwas „wegentscheiden“ will oder ob man sich mit dem „Gebot der Stunde“ befasst.

Mit dem „Gebot der Stunde“ befasst zu sein, ist oft genug damit verbunden, „über den Tag hinaus“ zu blicken, mittel- und langfristige Entwicklungen im Auge zu haben und darauf hin zu entscheiden. Nur von dorther lassen sich Prioritäten finden und Entscheidungsabläufe sehen und zusammenordnen. Wer aktuellen Entwicklungen aus dem Weg geht, wer der Wirklichkeit ausweicht, für den gilt der Satz von M. Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Was von politischen Entwicklungen gesagt wird, gilt mit entsprechender Übersetzung auch für geistliche Entscheidungen. Die stimulierte Frage lautet also: Gibt es für die Frage vordringlichen „Entscheidungsbedarf“?

Entscheidung bedarf der Freiheit

Die Aussage, dass eine Entscheidung der Freiheit aller Beteiligten bedarf, ist der Theorie ebenso selbstverständlich wie in der Praxis keineswegs immer gegeben. Die Entscheidungspraxis zeigt oft genug, dass jeder hauptsächlich seine eigene Lobby ist (und hat) und das eigene „wohlverstandene Interesse“ durchsetzen will – bewusst oder unbewusst.

Bei der Suche nach dem Willen Gottes in einer geistlichen Suchgemeinschaft geht es nicht darum, das eigene Interesse durchzusetzen, sondern sich auf eine echte, ernstgemeinte und offene Suche einzulassen. Die interessenfreie – nicht interessenlose bzw. uninteressierte – innere Haltung ist ein geistliches Experiment. Ist eine Gemeinschaft in Entscheidungssituation innerlich frei geworden gegenüber den möglichen Ereignissen, dann ist schon fast alles geschafft. Aber wie viel Ängste blockieren da oft? Biblische Situationen und Menschen sind Beispiele für beides: für innere Blockaden und für Schritte zur Freiheit.

Petrus ist der „Apostel des Niemals“. Viermal bei seinen „Auftritten“ im Evangelium gebraucht er das Wort „niemals“, und jedes Mal muss er umlernen, umkehren: „Niemals“, sagt er, als der Herr ihn auf den Kreuzweg nach Jerusalem einlädt; „niemals“ sagt er in Selbstüberschätzung seiner Treue; „niemals“ sagt er, als Christus ihm die Füße waschen will; „niemals“ sagt er, als eine nächtliche Vision ihn einlädt, Unreines zu essen und damit den Schritt über das jüdische Speisegesetz hinaus zu tun.

Gerade der Blick auf diesen großen „Entscheidungsträger“ und seine Lernschritte zeigt, wie sehr „entscheidende Entscheidungen“ mit Ängsten, Gewohnheiten, Vorurteilen usw. verbunden sind und wie fast unsagbar schwer es fallen kann, im Sinne des Evangeliums zu entscheiden. Abraham und seine Sippe zeigen in einer sehr handfesten Entscheidungs-situation die innere Freiheit, die Indifferenz des Herzens. Abraham sagt zu Lot: 

„Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts, wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.“ (Gen 13,8-9)

Abraham geht es um das Eine: dass Friede ist. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ihm sozusagen „jedes Mittel“ recht, d.h. er ist innerlich frei, das zu tun, was jeweils mehr dem Frieden dient, und das zu lassen, was dem Frieden entgegensteht.

Wie wird solche Freiheit im Menschen freigesetzt? – Die Botschaft des Evangeliums gibt zur Antwort, dass der Mensch sich selber und all seine ängstlichen Besorgtheiten in die Hand Gottes geben darf: „Sorget nicht ängstlich ...!“ „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr keinen Glauben?“ Die Angst um sich selber, die Sorge, zu kurz zu kommen, ist die Quelle der Unfreiheit in Entscheidungen. Wer sich selber das Leben sichern will, fällt vielleicht nach außen hin eindrucksvolle, sichtbare Entscheidungen, geht aber am Eigentlichen vorbei – biblisch gesprochen: Er gewinnt die Welt und verliert sich selber (vgl. Mt 16,25).

So jedenfalls sagt Jesus von dem Mann, der sich durch den Bau größerer Scheunen seine Seelenruhe sichern will – „Du Tor!“ (Lk 12,20).

Wachsen in der Entscheidungsfähigkeit heißt wachsen im Entscheidungsprozess! Das ist eines der wichtigsten Lernkapitel bei der Suche nach dem Willen Gottes. Als persönliche Gewissensfrage formuliert: Habe ich, haben wir unsere Sorgen, unsere Vorstellungen, unsere Motivation so weit in die liebende Sorge Gottes abgeben können, dass wir innerlich bereit sind nach dem zu suchen und uns für das zu entscheiden, was der Geist uns eingibt?

Gemeinsame Entscheidungsfindung heißt Bereitschaft zur Auseinandersetzung 

Was den meisten Christen im Blick auf die Urgemeinde ins Bewusstsein kommt, ist wohl der Satz: „Sie waren ein Herz und eine Seele.“ (Apg 2,44) Sicherlich ist damit eine Seite urchristlicher Wirklichkeit ausgedrückt. Es gibt aber auch eine andere: Die ersten Gemeinden hatten auch viele Auseinandersetzungen und massive Konfliktsituationen zu bestehen. Auf etwa 80 Konfliktstellen kam ich beim „Durchzählen“, davon etwa 40 verschiedene theologische, gemeindliche, spirituelle kontroverse Themen und Vorgänge!

Ein anderes, sehr bitter schmeckendes Beispiel für die Not gemeinsamen Tuns und Entscheidens zeigt sich in einem Konflikt zwischen Barnabas und Paulus. Paulus will Markus nicht mehr auf seine Missionsreisen mitnehmen. Barnabas dagegen will ihn dabeihaben. Dies führt dazu, dass die beiden großen Missionare nicht mehr zusammen missionieren! Was durch diesen Verweis deutlich werden kann, ist dies: Auch zwischen geisterfüllten Christen gibt es bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung immer wieder Konflikte. „Ich widerstand ihm ins Angesicht“, sagt Paulus über seine Auseinandersetzung mit Petrus. Entscheidungssuche bedeutet immer auch Bereitschaft zu mühsamen Auseinandersetzungen, Missverständnissen, Verletzungen usw. – Wie weit ist die Kirche bereit, das „tägliche Kreuz“ der gemeinsamen Suche nach guten Lösungen auf sich zu nehmen?

„Prüft alles und behaltet das Gute!“ - Unterscheidung der Geister

Ich erinnere an das Wort: „Prüft alles, das Gute behaltet!“ (1 Thess 5,21). Wie kurz die Mahnung auch sein mag, so grundlegend ist sie für die Suche nach Gottes Willen.

Es ist erstaunlich wie phantasielos und kurzschlüssig manche Entscheidungsvorgänge sind. Ein Vorschlag wird gemacht, alles nickt; oder es gibt heftige Gegenrede und einen Gegenvorschlag, und nach einigem Hin und Her wird dann abgestimmt und ein Vorschlag angenommen. In der Einladung, „alles“ zu prüfen, liegt eine große Weite. Sie lädt dazu ein, im Heiligen Geist zu phantasieren, und verschiedene Möglichkeiten zu suchen, bis sich in einer Alternative vielleicht ungeahnte Möglichkeiten zeigen und weit auseinanderliegende Interessen zusammenkommen können. Freilich sind dann Unterscheidungsvorgänge und stilvolles umgehen mit Entscheidungsfragen notwendig.

Zuweilen ist dies mühevoll und langwierig, aber auf lange Sicht doch der einzig sinnvolle Weg. – Sind in einer Suchgemeinschaft genügend Geduld und ausreichend Phantasie für ein solches Vorgehen vorhanden? 

„Mache den Raum deines Zeltes weit!“ - Abrüstung der Worte

Vor einigen Jahren hat sich das Hilfswerk MISSIO für eine Kampagne das Motto gegeben: „Mache den Raum deines Zeltes weit!“ Dieses Wort stammt aus dem Buch Jesaja: „Mache weit den Raum deines Zeltes, und deine Zeltdecken spanne aus! Spare nicht! Mache deine Seile lang, und deine Pflöcke stecke fest! Denn du wirst dich nach rechts und links ausbreiten; deine Nachkommen werden Nationen beerben und verödete Städte besiedeln“ (Jes 54,2-3). Dieses Wort steht auch über dem Arbeitstext der Kontinentalphase der Weltsynode.

Wohlgemerkt: Es geht nicht um ein Haus, es geht um ein Zelt. Dass wir gern um eigene vier Wände wissen, uns ein festes Dach über dem Kopf wünschen und auf das Eigenheim stolz sind, ist verständlich. Aber als Kirchen haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass Immobilien zur Last werden können, dass Baudenkmäler allein kein lebendiges Glaubenszeugnis sind. So ist das Zelt ein sehr passendes Bild für unsere Kirchen-Existenz: Zelte bieten das Notwendige an Schutz und Intimität, gleichzeitig aber sind Zeltwände durchlässig für den Klang des Lebens, für Lachen und Klagen, für Feste und Feiern. Zelte sind ein Sinnbild für innere und äußere Mobilität: Sie lassen sich abbauen, über kurze oder weite Strecken transportieren und neu aufbauen an anderen Orten. Zur Weite des Zeltes gehören auch die Pflöcke, die eingerammt werden und Sicherheit geben. Das Bild des Zeltes umschreibt auch die synodale Kirche: Weite einerseits und feste Pflöcke andererseits. Beides gehört zusammen. Weite und Festigkeit gehören in jeden ehrlichen Dialog. Sie ergänzen und befruchten sich gegenseitig. An uns, die wir synodale Kirche sein wollen, richtet sich der Prophet, wenn er sagt: „Mache den Raum deines Zeltes weit!“

Ich wünsche mir, dass wir die Spannung zwischen großer Weite und festen Pflöcken aushalten. Johannes Paul II. forderte: „Man muss von einer Position des Gegeneinanders und des Konflikts auf eine Ebene gelangen, auf der man sich gegenseitig als Partner anerkennt. (…) Um das zu verwirklichen, muss das zur Schau getragene Sich-Gegeneinander-Stellen ein Ende haben“ (Ut unum sint, Nr. 29).

Ich selbst habe mir gerade jetzt in der Vorbereitung auf Ostern einen Vorsatz genommen: Verbal-Abrüstung. Wohlwollend, nicht polemisch, einfühlsam, nicht von oben herab, empathisch, nicht arrogant möchte ich meinen Gesprächspartnern begegnen. Gespräche sind Räume zum Wachsen. Vielleicht wäre es eine gute Möglichkeit zum eigenen Wachstum, den Wahrheiten der anderen in dem, was ich als Wahrheit erachte, Raum zu geben. Dann würden wir weniger ausgrenzen, sondern einander bereichern. Katholisch heißt ja: gemeinsam in die Fülle der Wahrheit hineinwachsen. Heben wir keine Schützengräben aus, sondern bauen wir Brücken! Machen wir auf diese Weise „der Wahrheit den Hof“! 

Ich wünsche uns auf dem Weg zu einer synodalen Kirche von Augsburg „Räume zum Wachsen“ – im Gespräch, im Leben, im Beten. Das heißt konkret: Machen wir den Raum unserer Zelte, unserer Kirchen, weit!  

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Sicherlich ließe sich noch vieles sagen zur Suche nach dem Willen Gottes:

  • dass er immer auch Geheimnis bleibt, dass sich erst in der letzten Vollendung ganz offenbart
  • dass es ein „Jetzt“ gibt und auch ein Verpassen des richtigen Zeitpunktes
  • dass es manche Entscheidungen in der Kirchengeschichte gibt, die als Orientierungs-modell dienen können; vor allem bei einer Reihe von Heiligen kann man Hilfe suchen.

Über allen Unsicherheiten und Fragen steht die biblische Verheißung, der Geist werde in alle Wahrheit einführen (Joh 16,13). Auch die biblischen Suchgemeinschaften mussten ihren Weg oft genug im Halbdunkel gehen und bei einem „Minimum an Sehfähigkeit ein Maximum an Liebe wagen“ (Peter Wust).

07.03.2023 - Bischof , Bistum Augsburg , Gremien